Der 26. November 2022 war ein Highlight in unserem diesjährigen Kalender: Das um ein Jahr verschobene Symposium der Gesellschaft für Haltungs- und Bewegungsforschung (GHBF e.V.) fand unter dem Thema „Der Mensch im Netzwerk der Medizin“ statt. Knapp 180 Teilnehmer aus vielen medizinischen Fachgebieten waren gekommen, um ein buntes und spannendes Vortragsprogramm zu erleben. Insgesamt 13 Industrieaussteller bildeten mit ihren Produkten ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm.
Die Kongresseröffnung war dem frisch ernannten Ehrenpräsidenten der GHBF, Dr. Gregor Pfaff, vorbehalten. Er betonte, ausgehend von seinen langjährigen Erfahrungen als Orthopäde und Initiator des Untersuchungskonzeptes des Vereins, die notwendige interprofessionelle Verknüpfung der Disziplinen für die erfolgreiche Behandlung unserer Patienten. Die aktuelle Medizin in der täglichen Praxis sei keine „Gesundheitsmedizin“, sondern eine „Krankheitsmedizin“, gekennzeichnet von zu wenig und unterbewerteter Zeit. Das lasse dem Arzt keinen Raum, sich im Gespräch dem Menschen als emotionales Wesen mit seinem Krankheitsgeschehen zu widmen.
Danach übergab Dr. Pfaff den Staffelstab an den neuen GHBF-Präsidenten PD Dr. Wolfgang Laube, der in unnachahmlicher Weise einen Überblick zur Bedeutung der Bewegung für die Saluto- bzw. Pathogenese chronisch degenerativer Erkrankungen gab. Die Muskulatur ist weit mehr als nur der „Motor“ für die Körperhaltung und Bewegungen. Neben ihrer essentiellen Bedeutung für die mechanische Belastbarkeit aller Bindegewebestrukturen sind insbesondere die endokrinen Funktionen (Myokine) der Muskulatur hervorzuheben. Die nur bei Aktivität produzierten Signalstoffe wirken schmerzhemmend, stimulieren das Immunsystem und interagieren mit dem Gehirn und fast allen Geweben/Organen.
Die generalisierte schmerzreduzierende Wirkung von Training konnte im Anschluss Prof. Klaus Baum bestätigen. Der Sportwissenschaftler und Physiologe an der Sporthochschule Köln und Inhaber eines eigenen Trainingsinstituts präsentierte sehr kurzweilig die Ergebnisse einer umfangreichen Studie am Beispiel der Gonarthrose. Ein Programm getrennt entweder nur für die unteren, die oberen Extremitäten oder für alle Körperregionen hat die Knieschmerzen gleichartig reduziert und somit zugleich die Lebensqualität und die physischen Funktionen verbessert.
Patienten in die Bewegung zu bekommen ist gar nicht so einfach und setzt Motivation und die Fähigkeit zur Selbstregulation voraus. Die Sport- und Neurowissenschaftlerin Dr. Sabine Kubesch (Leiterin „Institut Bildung plus“ Heidelberg) konnte in ihrem Vortrag zum Thema „Bewegung beginnt im Kopf - Patientenmotivation und Selbstregulation“ an vielen Beispielen aus der Praxis zeigen, wie man den „inneren Schweinehund“ überwinden und ins „Machen“ kommen kann. Die von ihrem Institut entwickelten Programme zur Stärkung der Selbstkontrolle und Selbstregulation sind vor allem für Kinder entwickelt worden. Diese zielen auf die emotionale und kognitive Kontrolle der Aufmerksamkeitssteuerung sowie der Anstrengungsbereitschaft ab und lassen sich auch auf Patienten übertragen.
Dass Aufmerksamkeitsdefizite nicht grundsätzlich ein zentrales Problem sind, sondern in vielen Fällen ihre Ursache in einem visuellen Problem haben, zeigte eindrücklich Prof. Stephan Degle (Ernst-Abbe-Hochschule Jena) auf. Der neu gewählte Vizepräsident der GHBF hat aus der Sicht der Optometrie dargestellt, wie die Körperhaltung, das Gleichgewicht und die Bewegungsregulation von der Funktionsfähigkeit der Augen bzw. optischen Systems abhängig sind. Es gilt somit auch für den Orthopäden mittels einfacher Übersichtstests dieses System zu prüfen, wie es in der GHBF seit vielen Jahren in den Kursen vermittelt wird. Prof. Degle hat große Anteile in der Weiterentwicklung des interprofessionellen Kurskonzeptes und wird sich vor allem am Ausbau des Netzwerks engagieren.
Ein Highlight des Symposiums war der mit ernährungsphysiologischen Details gepickte Vortrag von Dr. Kurt Mosetter (Zentrum für interdisziplinäre Therapien Konstanz). Als echter Insider der Spitzensport-Ernährungs-Szene konnte er konkrete „dos und don´ts“ der Stars vermitteln, um die Leistungsfähigkeit und Erholungsprozesse zu verbessern. Er hat sich intensiv der antientzündlichen und schmerzhemmenden Ernährung gewidmet, die ebenso präventiv und für Patienten wertvoll ist. Dr. Mosetter stellte die individualisierte Ernährung, den „Glykoplan-natural kitchen“ vor und dessen Auswirkungen auf das Mikrobiom sowie in der Fortsetzung auf das Metabolom. Der Hauptfeind ist und bleibt der kurzkettige Zucker, der die low-grade/silent inflammation bedingt und unterhält.
Spannende Zusammenhänge der Bedeutung von Stress für unsere Gesundheit erläuterte Prof. Christian Schubert aus Innsbruck. Als Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie wies er insbesondere auf die sehr wichtige Tatsache hin, dass die Stressreaktionen der Menschen sehr unterschiedlich ausfallen können. Die Ausprägung und der zeitliche Verlauf des Auftretens von stressrelevanten physiologischen Merkmalen variieren sehr stark und die „zeitlich punktförmige“ Diagnostik in den adäquaten Studien sind nicht ausreichend aussagefähig.
Prof. Walter Strobl (Universität Krems, Kinder- und Neuroorthopädie Salzburg) beschäftigte sich mit der Entwicklung des Fußes, Entwicklungsverzögerungen und -störungen und den angepassten Therapieinterventionen. Aufgrund der zeitlichen Variationen von Entwicklungsschritten ist es teils schwierig, die noch physiologischen von den pathologischen Entwicklungen zu unterscheiden und möglichst frühzeitig die therapeutischen Konsequenzen einzuleiten.
Folgerichtig sprach der Sportwissenschaftler und Sonderpädagoge Dr. Wolfgang Gündel (Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Universität Erfurt) über die Förderung der sensomotorischen Entwicklung und die Betreuung von Kindern mit persistierenden frühkindlichen Reflexen. Bei persistierenden frühkindlichen Reflexen kommt es zu einer verzögerten Reifung mit Neuro- und sensomotorischen Regulationsstörungen, die einer frühzeitigen, angeleiteten Betreuung und Förderung bedürfen. Merkmale der sensomotorischen Defizite wurden benannt und es gilt nachteilige Auswirkungen auf Wahrnehmungsprozesse, das Lernen und das Verhalten zu minimieren.
Im letzten Vortragsblock stellte Prof. Stefan Sesselmann aus Weiden anhand biomechanischer Untersuchungen die „Laufmaus“ vor. Die „Einlage für die Hand“ ist dem Handgriff ergonomisch angepasst und beim sportlichen Laufen zeigt die Studie eine signifikante Veränderung in der Körperhaltung, wie z.B. eine Adduktion im Schultergelenk mit Supination der Hand und Aufrichtung der BWS. Es wird davon ausgegangen, dass diese biomechanischen Auswirkungen die Ökonomie des Laufens begünstigt, was mit weiteren Untersuchungen noch zu belegen ist.
Im abschließenden Vortrag präsentierte PD Dr. Normen Best, Jena, den Jenaer-Stand-Stabilitäts-Score: Ein kombiniertes Messverfahren, um diese sensomotorische Grundfertigkeit bei Patienten und älteren Menschen zu charakterisieren. Die Testbatterie besteht aus einer Kraftausdauerbelastung für die Bauch- und Rückenmuskulatur (McGill/Ito-Test), der Provakations-Posturographie, dem motorischen Stereotyptest Hüftextension nach Janda, dem Einbeinstand, dem SF-12-Fragebogen, dem neu entwickelten Bregma- und dem Zielschritt-Test. Eingetragen in eine „Ergebnisspinne“ entsteht ein sehr guter Überblick zu den verschiedenen für die Standsicherheit beteiligten Teilleistungen und lässt eine Gesamtbewertung zu.
Durch das Programm führte der neu gewählte GHBF-Vizepräsident Prof. Erich Wühr, der als Zahnarzt, Kieferorthopädie, Osteopath und Professor für Gesundheitsförderung und Prävention mit seinem Know how den Ausbau der GHBF als Anbieter von interdisziplinären und interprofessionellen Kursformaten inhaltlich bereichert.
Das 7. GHBF-Symposium war eine rundum gelungene Veranstaltung – wir freuen uns schon auf das nächste Symposium am 23. November 2024!